Ich sitze an einer Haltestelle und warte, tief in mich gefühlt, auf meinen Bus. Da höre ich Schritte, versuche sie gleich in meinen Tagtraum einzuarbeiten – misslungen. Ein Blick nach rechts verrät mir das Näherkommen des Besoffenen, der sich gleich neben mich setzen wird. Ich überlege, ob ich schnell weg muss, oder sitzen bleibe, ob ich gehörlos spiele, oder einfach nur da bin. Ich bin einfach nur da. Er setzt sich tatsächlich hin und quatscht mich an. Er hieße Karl-Heinz und einer seiner Familienangehörigen sei gestorben. Soll ich nun mein Beileid aussprechen? Irgendwie nicht, ich kenne ihn ja gar nicht, außerdem quatscht er immer weiter. Eigentlich würde er ja nicht trinken, aber unter diesen Umständen sei das etwas ganz anderes. Seine Tante riefe ihn heute an, er müsse schnell nach Württemberg, denn sein Bruder sei gestern gestorben. Man bräuchte ihn zum Aufbau der Bestattungsfeier. Er allerdings habe nichts mit seinem Bruder zu tun und seine Familie missachte ihn sowieso, doch wenn man ihn bräuchte, müsse er immer da sein. Ich höre ihm einfach nur zu. Und er quasselt weiter, das sei unfair. Grund genug, zum Saufen, doch er saufe ja gar nicht. Er sei erst in zwei Kneipen gewesen und in eine dritte wolle er nicht gehen. Ein Bus nähert sich. Ich kann Karl-Heinz nun aus dem Weg gehen, indem ich mit dem Bus eine Station fahre. Doch was, wenn er auch den Bus nehmen will? Ich will ja auch nicht weglaufen vor einem eigentlich armen Menschen. Ich werde abwarten, eine Strategie, die oft viel löst. Tatsächlich steht der Besoffene langsam auf und geht redend in Richtung Bus. Er finde das alles sehr unfair, er kenne seinen Bruder ja gar nicht und nun sei jener weg und er müsse auch noch helfen. Jemandem helfen, den er überhaupt nicht kenne. Das wäre nicht einmal im Sinne des Toten und schon gar nicht in seinem. Er habe wahrhaftig Grund zum Saufen. Er verabschiedet sich noch freundlich und steigt in den Bus. Ich erwiderte mit einem Tschüss und schaue dem Bus, welcher inzwischen losgefahren ist, hinterher.
Würde Karl-Heinz wissen, was ich in meinen jungen Jahren durchmache, selbstverständlich ohne Alkohol oder anderer Drogen, hätte er mich wahrscheinlich nie so angequatscht. Stattdessen freundlich den Hut gezogen und sich vielleicht meine Geschichte angehört.

(19.7.1999)