Es ist bedauerlicherweise schon 7 vor 7. Eigentlich wollte ich um 5:55 Uhr aufstehen und eventuell auch frühstücken. Durch meinen Kopf schießt nur ein Gedanke: Der nächste Bus kommt um 7 Uhr, den schaffe ich noch. Mein Gefühl bremst mich. Gott sei Dank! Ich habe Bauchschmerzen (um das Wort Magenkrämpfe nicht zu benutzen) und frage mich: Hunger? Ein wenig zu Essen (vielleicht Salzstangen?) würde gut tun, aber Hunger ist es dieses Mal wirklich nicht. Meine Blase drückt und bevor mein Körper einfach tut, was er will, beziehungsweise was er muss, gehe ich lieber ins Bad. Das Geschäft ist schnell erledigt. Wo ich hier gerade sitze, bleibe ich doch sitzen und genieße die Ruhe des Klos. Ich kann ja schließlich nichts dafür, wenn es etwas länger dauert. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in die Hände sinken lassend, überlege ich, ob ich zur Schule gehe, oder nicht. Und schon wieder habe ich eine Entscheidung zu treffen. Gestern hieß es noch: erst einmal Körper, Geist und Seele ins Reine bringen. Schule ist wichtig, ich muss auf jeden Fall hingehen. Doch was nützt es mir, wenn ich 20-45 Minuten zu spät komme, ein schlechtes Gewissen habe, sowieso nichts verstehe, weil ich zu müde bin und einfach nur hoffe schnell nach Hause zu kommen? Am Besten ich rufe bei einem Erziehungsberechtigten an und hole mir die Bestätigung zu Hause bleiben zu dürfen. Kann ich mir das nicht selber anmaßen? Muss ich wirklich schon wieder selbst entscheiden? Wo ist die Familie, die darauf achtet, dass ich ins Bett gehe und mich in den Arm nimmt und mir sagt wo der ‚rote Leitfaden‘ weitergeht? Gehe ich nun zur Schule, oder nicht?
Geist? : Schule ist wichtig, ich werde Unterrichtsstoff verpassen, wenn ich nicht hingehe. Also los!
Körper? : Am Besten wieder ins Bett gehen, später irgendwie eine Entschuldigung besorgen und alle verdammten Termine einfach fallen lassen (absagen wäre zu aufwändig).
Seele ? : .
Gut, dann gehe ich zur Schule. Ich stehe auf, drehe mich zum Waschbecken, stehe vor dem Spiegel und erschrecke mich. Verdammt, wie sehe ich aus? Kreideweiß, ohne Blut, vertrocknete Lippen, kein Leben in dem Spiegelbild. Sieht fast drogenabhängig aus. Moment, meine Hände stützen sich am Waschbecken auf, das Spiegelbild bin ich. Und schon wieder die Frage, auf die ich keine Antwort weiß: Soll ich nun zur Schule gehen, oder nicht? Weinen würde ich wollen, doch kann es nicht. Keine Seelenträne.
Es ist jetzt Punkt 7:58 Uhr. Nachdem ich nun abermals hin und her überlegte, diesen Text schrieb und einige Nachbarn zur Arbeit gehen hörte, traf ich um 8:02 Uhr folgende endgültige und richtungsweisende Entscheidung: Ich werde dieses Wochenende nur für meinen Körper da sein, ohne Rücksichtnahme irgendwelcher eingeplanter oder uneingeplanter Termine. Ich tue jetzt so, als würde ich, von Musik geweckt, um 8:10 Uhr aufstehen und gehe dann erstmal frühstücken, danach duschen und naja, wie man halt einen Tag anfangen kann. Und damit auch alles klappt, ziehe ich zunächst das Internet- und Telefonkabel heraus…
…alles und immer mit dem Hintergedanken: für meinen Körper, Geist, Seele.

(3.12.1999, 8:09 Uhr)